Falsche Schande

Schriftwechsel mit dem hr - 27.02.2013

 

In der letzten Woche wurde darüber berichtet, dass die hessische Polizei Razzien bei sogenannten Cyber-Groomern durchgeführt hat. Das sind Leute, die sich im Internet als Kinder ausgeben um sich an Kinder ranmachen und diese dann über Webcam zu sexuellen Handlungen aufzufordern oder sogar zu vergewaltigen, wenn es zu einem Treffen kommt. Ich habe am Dienstagmittag gerade bei einem Glas Brause meine Fußnägel lackiert, als im hr1-Radio innerhalb von 30 Sekunden vier mal das Wort "Kinderschänder" fiel.

Deshalb habe ich direkt in einer "Mail ins Studio" gefragt:

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe eine Frage zum gebrauchten Vokabular in Ihrer Sendung und auf der Webseite: Wann wird man sich im hr damit auseinandersetzen, dass der Begriff "Kinderschänder" den Opfern von Missbrauch und Vergewaltigung schadet?

Mit freundlichen Grüßen

Rosa Opossum

Wieso? Weil der Begriff "Kinderschänder" impliziert, dass ein Kind mit Schande bedeckt wird. Es gab eine Zeit, in der die Schande "geschändeter" Jungfrauen, tatsächlich auf den vergewaltigten Frauen lag, nicht auf den Tätern. Der Einwand dass Missbrauchs- und Vergewaltigungsopfer (Mit)Schuld hätten, an dem was ihnen angetan wurde, hat sich immer noch nicht ganz aus allen Köpfen verabschiedet.
Auch heute noch sind es Wörter wie "Kinderschänder", welche die Opfer diskriminieren und stigmatisieren. Wir müssen aufhören, dieses Vokabular zu benutzen, damit nicht die falschen mit Schande bedeckt werden.

Heute kam die Antwort von Ulli Janovsky, dem Leiter der Nachrichtenredaktion von hr_info:

Sehr geehrte Frau Opossum (?),
 
vielen Dank für Ihre Mail und Ihr Interesse an den hr1-Nachrichten.
 
Auch bei uns in der Redaktion hat dieser Begriff gestern zum wiederholten Mal eine Diskussion ausgelöst. Wir hatten den Begriff "Kinderschänder" schon vor Jahren als problematisch erkannt und in unseren redaktionsinternen Leitlinien festgelegt, wann immer möglich anders zu formulieren.
 
Auf der anderen Seite jedoch ist der Begriff "Kinderschänder" eingeführt und führt direkt zum Thema. In den Hörfunknachrichten müssen wir stets ausbalancieren zwischen sprachlicher Verständlichkeit und inhaltlicher Präzision. Eine Umschreibung wie zum Beispiel "Die Polizei in Hessen hat mehrere Männer festgenommen, die im Verdacht stehen, sich an Kindern vergangen zu haben" ist zwar präziser, aber auch komplizierter.
 
Ich bin auch der festen Überzeugung, dass die Etymologie des Wortes (der Straftäter bringt Schande über das Kind) heute nicht mehr greift. So wie Sprache sich unablässig wandelt und Begriffe einen Bedeutungswandel erfahren, so dürfte heutzutage kein denkender Mensch mehr davon ausgehen, dass das missbrauchte Kind die Schande erleidet.   
 
Ich hoffe, Sie haben für meine Darstellung Verständnis.
 
Außerdem hoffe ich, Sie bleiben uns als hr1-Hörerin treu.
 
Mit freundlichen Grüßen
 
Ulli Janovsky
Leiter Nachrichten, hr-iNFO


Also zusammengefasst: Herr Janovsky, der sich wohl so sehr über meinen Namen wundert, dass er ihn mit Fragezeichen versieht, erklärt mir, dass die Redakteur_innen sehr wohl wissen, dass man "Kinderschänder" nicht sagen sollte, dazu sogar Leitlinien verfasst wurden, man sich an diese aber nicht hält. Gratulation.

Natürlich habe ich da noch mal nachgehakt, eine gute Transe will ja auch irgendwie das letzte Wort haben:

 

Sehr geehrter Herr Janovsky,

mich freut zu hören, dass es in der Nachrichtenredaktion Personen gibt, die das Problem mit dem Wort "Kinderschänder" erkennen. Umso weniger verstehe ich, weshalb trotz dieses Bewusstseins und der von Ihnen beschriebenen Leitlinien dennoch an dem Begriff festgehalten wird. Nicht nur bei den Hörfunk-Nachrichten, sondern auch im geschriebenen Wort, wie die Suchfunktion auf hr-online.de zeigt (14 Treffer).

Sie ahnen sicher schon: Ich teile Ihre Überzeugung, dass Sprach- und Bedeutungswandel, keine implizite Schuldzuweisung an Opfer mehr birgt, nicht. Wenn Sie sich Beiträge von Opfern sexuellen Missbrauchs und deren Angehörigen ansehen, werden Sie schnell bemerken, dass hier der Begriff nicht verwendet wird, oft sogar ausdrücklich wegen seines bagatellisierenden, missdeutigen und zurücksetzenden Charakters abgelehnt wird. Genauso verfahren natürlich Betroffenenverbände wie Wildwasser, Dunkelziffer und Co.

Mehr noch: Der Stammtisch- und Boulevard-Begriff "Kinderschänder" wird  massiv von rechtsextremen Gruppen instrumentalisiert, um junge gutgläubige Gemüter zu akquirieren. Dies geschieht gerade in letzter Zeit in sozialen Netzwerken wie Facebook mittels Gruppen namens "Keine Gnade mit Kinderschändern" oder "Todesstrafe für Kinderschänder", welche von Neofaschist_innen betrieben werden.
Wenn wir also von Sprach- und Bedeutungswandel sprechen, dann sollten wir auch genau hinsehen, wer Worte wie deutet und mit wem eine sprachliche Allianz eingegangen wird, wenn man "Kinderschänder" sagt.

Mit freundlichen Grüßen

Rosa Opossum

 

Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich immernoch auf eine Antwort warte (02.05.2013)

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